
Vom Rückwärtsgehen
aus: Da Sein - Heilsame Geschichten von Krischan H.G. Johannsen
Einmal kam zum alten Mann einer, der klagte über die Ungerechtigkeit der Welt, die sich vor allem darin zeigte, wie schlecht es ihm immer ergangen war. Er durfte nicht in die gleiche Schule wie seine Geschwister. Er musste eine Ausbildung machen, die er nicht wollte. Er biss sich durch und im Beruf anerkannt, um dann doch bei der ersten Gelegenheit entlassen zu werden. Er hatte Freundinnen, doch verließen sie ihn. Er lernte einen neuen Beruf und wurde nicht erfolgreich damit. Der Gast des alten Mannes sah müde und verbissen aus. Er war müde vom langen Kämpfen.
Der alte Mann saß und sah.
Er sah genau und hörte.
Er hörte genau und fühlte.
Er fühlte genau und roch.
Er roch genau und schmeckte.
Er hörte, wie es seine Art war zu hören.
Er hörte, saß lange und schwieg.
Dann erzählte der alte Mann seinem Gast eine kleine Geschichte:
Es lebten einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit, in einem Land drei Weise, die dienten alle demselben König.
Ihre Aufgabe war es, den König bei allem zu beraten, was er zu entscheiden hatte. Meistens stellte ihnen der König eine Frage oder schrieb ihnen die Frage auf königliches Briefpapier, und die drei Weisen nahmen sich einen oder zwei oder auch drei Tage Zeit, bevor sie ihm einen Rat gaben.
Sie dachten hin und her, überlegten dies und das, planten und verwarfen und gaben dann endlich einen wohlfundierten Rat. Viele kluge Entscheidungen rührten daher. So gab es im ganzen Königreich nur jeden zweiten Tag Brot zu kaufen, weil die Weisen herausgefunden hatten, dass frisches Brot ungesund sein kann und Blähungen macht. Aber altes Brot können viele nicht essen. So hatten sie in ihrer Weisheit entschieden, dass ein Tag frisches Brot und ein Tag altes Brot ein guter Kompromiss sei, ein kluger Rat.
Oder die Kutschen. Sie hatten alle zwei Sitze nach vorne und zwei Sitze, die nach hinten schauten. Rücken an Rücken saßen die Passagiere, sodass diejenigen, die nach hinten schauten, den Kutscher immer rechtzeitig warnen konnten vor Gefahren von hinten. Für die armen Kutscher, die allein auf der Kutsche saßen, hatten sie den obligatorischen Rückblicker entwickelt - ein blank poliertes Stück Metall, das es ihm ermöglichte, immer nach hinten zu sehen. Ein weiser Rat.
Es gab im Königreich auch eine große Bibliothek, in der wurden nur solche Bücher und Dokumente gesammelt, die mit Erfindungen zu tun hatten. Aus der ganzen Welt wurden die Bücher und Papiere dorthin gebracht und fest verschlossen. Nun war die Bibliothek aber nicht jedem zugänglich. Sie diente nur dazu, die Arbeit der Weisen zu überprüfen. Wann immer sie etwas empfehlen wollten oder erfunden hatten, eilten sie in die Bibliothek und suchten, ob es diese Erfindung schon gab. Wenn sie es schon gab, wurde sie flugs verworfen.
Dann erfand einer der Weisen das Rückwärtsgehen.
"Es kommt darauf an", sagte er zu seinen Kollegen, "dass wir uns immer dessen bewusst sind, was hinter uns liegt. Wir müssen immer wissen, wo wir herkommen, sonst werden wir nicht wissen, wie wir weiter gehen sollen. Stellt euch einmal vor, wie das wäre, wenn jemand einfach nur so vorwärts ginge, ohne an das hinter sich zu denken. Er würde ja einen Fehler nach dem anderen machen und könnte jederzeit von dem, was hinter ihm kommt, eingeholt werden. Das Rückwärtsgehen ist die konsequente Weiterentwicklung des Rückwärtsblickers bei den Kutschen. Wir Menschen sind falsch konstruiert. Wir müssen das ändern. Wir müssen lernen, rückwärts zu gehen."
Die Kollegen waren beeindruckt. Sie schauten in der berühmeten Erfindungsbibliothek nach. Das Rückwärtsgehen war dort nirgends verzeichnet. Also machten sie dem König den Vorschlag, das Rückwärtsgehen einzuführen. Das würde das Land einen entscheidenen Entwicklungsschritt voranbringen.
Die Weisen hatten auch einen Werbespruch entwickelt für die neue Methode: "Nur wer rückwärts blickt, kommt gut voran."
Der König überlegte hin und her und stimmte schließlich dieser Neuerung zu. Er bestimmte einen Tag, von dem an alle Menschen über 15 Jahren ausschließlich rückwärts zu gehen hatten. Wer jünger war, hatte der König bestimmt, hatte noch nicht soviel zum Zurückschauen und durfte vorwärts gehen.
Es war recht interessant, als das Rückwärtsgehen eingeführt wurde.
Man hörte häufiger ein Plumpsgeräusch, weil sich wieder jemand unfreiwillig auf die Straße gesetzt hatte. Manchmal gab es auch ein mehr metallisches Klongen zu hören, wenn jemand einen Laternenpfahl getroffen hatte. Die Leute hatten auch einigermaßen viel Kopfweh in den ersten Tagen und Halsschmerzen, weil sie sich ja jetzt plötzlich nach hinten drehen mussten, um vorwärts zu gehen.
Die Kinder rannten ihren Eltern jetzt ständig davon, weil sie vorwärts viel schneller davonlaufen konnten als ihre Eltern rückwärts hinterher.
Die Leute murrten zuerst. Aber weil sie ihren König liebten und die Weisen achteten, hielten sie sich gerne an die neue Regel. Mit der Zeit lernten alle, rückwärts zu gehen. Nur die Tiere nicht. Und die Kinder mochten sich ungern daran gewöhnen.
Sonst wurde alles wie es der Weise vorausgesagt hatte. Die Menschen begannen, immer mehr an das zu denken, was hinter ihnen lag. Das war sehr klug von ihnen. Denn so wurden sie sorgsam für die nächsten Schritte, die sie rückwärts in die Zukunft taten. Und ist denn nicht jeder Schritt, den wir tun, ein Schritt in die Zukunft? Ist es da denn nicht gut, diese Schritte rückwärts zu gehen? Dann nehemn wir immer wahr, was wir hinter uns gelassen haben.
Sie dachten an ihre Krankheiten und Leiden. Sie dachten an ihre unbeschwerten Kindheitstage und an die erste große Liebe. Sie dachten an das Glück, das sie einmal besucht hatte und wieder gegangen war. Sie dachten an die vielen verlorenen Chancen, an die schweren Tage.
Sie redeten miteinander über das, was sie sahen, so wie sie früher über das gesprochen hatten, was vor ihnen lag.
Manche wollten nun schon gar nicht mehr wissen, was nun vorne oder hinten war.
Sie bekamen Angst vor der Zukunft, denn sie lag ja nun hinter ihnen.
Sie sorgten sich um die Vergangenheit, denn sie lag ja nun vor ihnen. So wie ihr Gang verdreht war, verdrehte sich die Welt.
Je länger die Leute Rückwärts gingen, desto schwerer wurde es im Parlament, ein neues Gesetz zu erlassen. Bald gab es sogar Gesetzesanträge über die Behandlung der Vergangenheit.
"Man darf die Vergangenheit nicht ändern", forderte ein Abgeordneter, "Jeder Mensch hat ein Recht auf die Unantastbarkeit der Vergangenheit."
"Wir haben die Vergangenheit nur von unseren Kindern geborgt", sagte ein zweiter.
"Wir müssen darauf achten, dass wir sie ihnen unversehrt und gut übergeben."
Gesetze für die Zukunft gab es nicht mehr. Das Parlament hatte genug damit zu tun, die Vergangenheit zu regeln. Es gab lange Anklagen, viele Untersuchungsausschüsse. Es gab viele Menschen, die rückwärts in Gefängnisse gingen. Es gab viele Menschen, die darüber sprachen, wie schwierig die Zukunft sein würde. Bald entstanden noch viel mehr Vergangenheitsforschungsinstitute, als es sie früher gegeben hatte. Und es gab einen neuen Beruf. Den des Vergangenheitshelfers. Die Vergangenheitshelfer halfen Menschen, verschlossene oder versteckte Stücke ihrer Vergangenheit wiederzuentdecken. Dazu baten sie ihre Kunden oder Klienten, wie sie sie nannten, auf wunderbar ledernen Couchen Platz zu nehmen und gewißermaßen im Liegen die Vergangenheit wiederzuentdecken. Sie erkannten, dass die Vergangenheit genauso ungewiss sein kann wie es früher die Zukunft gewesen war.
Aber jetzt war die Zukunft ja noch viel ungewisser, und die Menschen begannen, Angst vor der Zukunft zu haben.
Deshalb wagten - nach vielen Monaten, in denen das Volk die neue Regelung gelebt hatte - ein paar aufgeschlossenen, mutige Menschen ein Experiment:
Sie gingen stundenweise vorwärts. Aus therapeutischen Gründen.
Und es wirkte. Sie wurden fröhlich dabei. Die Weisen wussten immer alles, was geschah. So wussten sie auch von diesem Experiment. Sie gingen zu den Experimentatoren. Sie befragten die waghalsigen Vorwärtsgeher und Vorwärtsgeherinnen. Die meisten von ihnen waren stolz, dass sie sich getraut hatten, nach vorne zu sehen.
"Es war, als sähe ich die Welt wie ein Kind", sagte eine Frau.
"Ich konnte plötzlich rennen und nach vorne sehen. Ich bin nicht gestürzt dabei."
"Ich konnte wunderbar lachen."
"Ich bin direkt auf einen Sonnenaufgang zugegangen", sagte einer, "das war großartig."
Alle Teilnehmenden an den Experimenten wirkten fröhlich und entspannt.
"Vielleicht ist es das", sagte der zweite Weise zum ersten Weisen, "Was?", fragte der erste Weise.
"Vielleicht ist das Vorwärtsgehen doch besser - weil es fröhlicher macht", sagte der zweite Weise.
Sie dachten alle drei nach. Dann gingen sie zum König, um sich mit ihm zu beraten.
Am Tag darauf ordnete der König ein neues Gesetz an.
"Es ist ab sofort nur noch an zwei Tagen im im Jahr gestattet, rückwärts zu gehen", sagte der König.
Als die Leute dies in den Nachrichten vom Tag vorher hörten, drehten sie sich um, sahen nach vorne - und begannen, ein Fest zu organisieren.
Alle freuten sich auf dieses Fest.